Barrierefreiheit ist ein teurer Spaß

Was bedeutet die Umsetzung eines barrierefreien, interaktiven Angebots in der Praxis?

Das Barrierefreiheit einen erheblichen Mehraufwand bedeutet… Das barrierefreie Seiten aus Sicht eines Designers schlicht und langweilig daher kommen oder das Barrierefreiheit überhaupt kein Thema für die eigene Website ist – das sind wohl die häufigsten Vorurteile in unserem digitalen Altag.

Heutige professionelle Internet-Auftritte haben scheinbar nichts mehr mit den optisch reduzierten Hypertext-Seiten aus der Anfangszeit des World Wide Web gemeinsam. Offensichtlich haben Grafikdesigner und Medienfachleute dieses Medium zurückerobert. Obwohl der Erfolg des Internets ohne dieses optische Tuning („Pimp my web“) undenkbar wäre, schließt diese Entwicklung gleichzeitig viele Nutzer aus, denn sie baut für eine Vielzahl von Nutzern – über ein schlecht oder nicht zu bedienendes Benutzerinterface – eine unüberwindliche Barriere auf.

Barrierefreiheit ist keine Frage der Einhaltung formaler Regeln (wie sie beispielsweise in der BITV definiert sind). Barrierefreiheit ist kein zusätzliches Feature, welches in eine Website integriert wird. Die Einhaltung der Barrierefreiheit ist eine grundlegende Entscheidung für die Einhaltung definierter Regeln und Standards. Mit der Entscheidung für einen BITV-konformen Auftritt werden sehr wesentliche Weichen gestellt!

Barrierefreiheit hilft nicht nur blinden Nutzern des Internets, die auf Vorleseprogramme angewiesen sind, sondern auch sehbehinderten, farbenschwachen, gehörlosen Menschen, Menschen mit kognitiven und motorischen Behinderungen, sowie Menschen mit anderen Funktionseinschränkungen. Zudem sind die Übergänge im Hinblick auf eine Barriere gerade im Alter fließend, so dass Barrierefreiheit die Nutzung des Internets einem Großteil der Bevölkerung spürbar erleichtert.

Wer mit geschickter Nutzung der vorhandenen Technologie Barrieren vermeidet, hat einen Innovationsvorsprung. Der Mehraufwand ist bei entsprechender Planung beherrschbar.

Interessenkonflikte zwischen Design, Technik und BITV-Anforderungen bei der Ausgestaltung des Online-Angebots sind unvermeidbar. Grafik-Designer haben in erster Linie den Auftrag, das Corporate Design des Auftraggebers und die Image-Kampagnen der Marketingabteilung umsetzen. Dies führt oft zu einer deutlichen Abkehr von dem ursprünglichen Gedanken hinter dem Internet als reinem Hypertext-Medium (der gerade mit dem Web 2.0 eine neue Blüte erlebt – Text und Content rules). Das Design muss funktionalen Ansprüchen, wie der Nutzerfreundlichkeit (Usability) und der Barrierefreiheit, mindestens den Raum geben, der dem Marketing für die Erarbeitung eines attraktiven Designs eingeräumt wird.

Der Auftraggeber sollte auf Kompromisse bei Design und technischen Anforderungen vorbereitet werden. Eine Beratung zu Beginn des Projektes mit klaren Informationen zur Tragweite der Entscheidung für die Einhaltung der BITV und zu möglichen Lösungsansätzen für kritische Anforderungen ist sehr empfehlenswert. Ein qualifizierter, externer Ansprechpartner kann während der Projektlaufzeit zu „best practices“ Auskunft geben und die oft unscharfen Abgrenzungen erläutern (wir wüßten da wen!).

Bei der Erstellung des Designs und der darin enthaltenen Elemente sind kontinuierlich BITV-Anforderungen im Detail zu beachten. Der alte Leitsatz „form follows function“ ist im beschriebenen Zusammenhang mehr als nur ein schöner Spruch. Ganz sicher muss eine barrierefreie Umsetzung nicht weniger attraktiv sein oder Marketingaspekte ungenügend berücksichtigen. Das Gegenteil ist der Fall. Eine barrierefreie Umsetzung kann mit dem Begriff „mediengerecht“ umschrieben werden. Hinter diesem Begriff verbirgt sich eine effektive, nutzbare und sinnvolle Lösung, die alle Beteiligten in höchstem Maße zufrieden stellen wird.

Um es nochmal zu betonen – aus unserer Sicht kann die Barrierefreiheit nur ein Aspekt unter vielen sein. Wer ausschließlich auf die Barrierefreiheit schaut, wird viele andere Dinge übersehen oder nicht ausreichend berücksichtigen. Das führt dann eben nicht zu einer optimalen Lösung. Natürlich lässt sich mit den Thema Barrierefreiheit auch Geld verdienen und es gibt sogar Ansätze, die primär auf diesen Umsatz ausgerichtet sind.

Der Versuch einer objektiven Überprüfung der Barrierefreiheit einer Website wird in der Regel auf der Basis der WCAG aus dem Jahr 1997/99 durchgeführt. Dieses Dokument und die davon unter Verlust wichtiger Präzisierungen abgeleitete BITV beschränken sich auf technische Aussagen zum Einsatz von HTML, die immerhin 8 Jahre alt sind. Für die Dynamik hinter den technischen Entwicklungen rund um das Internet ist dies eine sehr lange Zeit.

Die WCAG von 1997/99 ist heute nur in sehr eingeschränktem Umfang geeignet, Barrierefreiheit im technischen Sinne sicherzustellen. Problematisch wird dieses Ansinnen, wenn dieser unzureichende Ansatz in die Form eines statischen Zertifikats gegossen wird. Dies betrifft aktuell die Bestrebungen der renommierten Gesellschaft für Konformitätsbewertung DIN-Certco GmbH. Hier wird mit dem hohen Stellenwert den die Bezeichnung „DIN“ in Deutschland hat, die Qualität eines Zertifikats versprochen, dem weder das Zertifikat noch die zertifizierenden Stellen wirklich gerecht werden können.

Letztendlich geht es nicht darum, ob ein Angebot zertifiziert ist, sondern, ob es wirklich barrierefrei ist – ohne gleichzeitig Innovationen in anderen Bereichen zu blockieren. Das DIN-Zertifikat wird voraussichtlich eine ähnliche Relevanz für einen barrierefreien Webauftritt haben, wie die DIN EN ISO 9241 für den Bereich Usability. Diese Norm wird in der Internet-Praxis de facto nicht berücksichtigt, ohne dass dies Rückschlüsse auf die tatsächliche Qualität der Websites zulässt.

Eine relativ hohe Gewissheit, ob das eigene Internetangebot wirklich barrierefrei ist, kann eine einmalige Überprüfung durch unabhängige Fachleute geben, der eine fortlaufende Überprüfung aller neuen und geänderten Inhalte folgt. Die Prüfung muss die aktuellen Entwicklungen einbeziehen und lässt sich nicht an einem festen Kriterienkatalog ausrichten.